KULTUR UND WISSENSCHAFT

  IN NORDRHEIN-WESTFALEN

Das erste Mal

Das erste Mal

Parlamentarischer Staatssekretär Klaus Kaiser in den Ruhr Nachrichten (29. September 2017)

Wir können dabei sein, hieß es, wenn der neue Staatssekretär des Kulturministeriums das Ballettzentrum besucht, und zwischendurch die eine oder andere Fragen stellen. Doch es ergab sich ein längeres Gespräch über den Wert von Kultur und über Schüler, die das Ballett kennenlernen

Herr Kaiser, Sie sind seit Ende Juni parlamentarischer Staatssekretär. Ich nehme an, dieser Besuch des Ballettzentrums gehört für Sie noch zur Einarbeitung?

Klaus Kaiser: Es ist natürlich wichtig, sich auch über diesen Bereich des kulturellen Lebens in NRW zu informieren. Das war heute ein ganz tolles Beispiel, das auch noch viel Spaß gemacht hat. Wer, so wie ich, heute hinter die Kulissen schauen kann, versteht die Abläufe besser. Allmählich erhalten wir ein Bild von dem in diesem Land vorhandenen enormen kulturellen Potenzial.

Die Ministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen hat einen vielversprechenden Kurs vorgegeben für die Kultur in NRW.

Kaiser: Wir haben sicherlich gute Rahmenbedingungen. Der Kulturetat wird in den kommenden fünf Jahren um stattliche 50 Prozent, von 200 auf 300 Millionen Euro, steigen. Das heißt, wir können die Kultur in Nordrhein-Westfalen weiter profilieren.

Geld ist die eine Sache. Die andere, die auch die Ministerin in mehreren Interviews angesprochen hat, ist das Verständnis der Kultur als Wert an sich. Wie kann man das denn stärken?

Kaiser: Ich glaube, wenn wir ein Bewusstsein schaffen, wie gut und vielfältig wir in diesem Land sind, und wenn wir das nicht müde werden herauszustellen, dann ist schon ein großer Schritt getan.

Wie machen Sie das?

Kaiser: Indem wir zum Beispiel deutlich machen, welchen Stellenwert dieses Juniorballett hat. Das ist ein Highlight in Deutschland, da liegen wir im Spitzenfeld. Genau wie auch in der Theaterlandschaft, nehmen Sie nur die Ruhrtriennale.

Deutlich machen – was heißt das konkret? Wie macht man das?

Kaiser: Dazu gehört erst mal auch die Selbstwahrnehmung, in der Champions League zu spielen. Dabei geht es nicht nur um Euros und Cents, sondern darum, diese Spitzenposition immer wieder zu betonen und zu pflegen. Die neue Ministerin ist ganz sicher eine hervorragende Botschafterin der Kultur, weil sie in der Kulturszene nicht nur von NRW bestens vernetzt ist.

Sie meinen betonen und pflegen in Form von öffentlichen Äußerungen – Pressemitteilungen, Reden?

Kaiser: Auch, klar. Zusätzlich kann man mit Besuchen vor Ort immer wieder ausdrücken: Ihr genießt unsere besondere Wertschätzung, wir geben Euch weiter Rückhalt und Unterstützung.

In Dortmund gibt es Pläne für weitere Einrichtungen, die eine positive überregionale Wahrnehmung und Wirkung entwickeln könnten. Da ist  die Junge Bühne Westfalen, die am Theater in der Innenstadt gebaut werden soll, und der Plan des Schauspielintendanten Kay Voges, eine Akademie für Digitalität und Darstellende Kunst in Dortmund aufzubauen. Ich nehme an, darüber haben Sie schon gesprochen?

Kaiser: Wir führen derzeit sehr viele Gespräche und hören gut zu. Wenn diese Phase abgeschlossen ist, werden wir zu den Details sicher Stellung nehmen können.

Frau Blasberg-Bense, Sie leiten die Schulabteilung der Bezirksregierung. Das Ballettzentrum ist keine Schule – warum sind Sie trotzdem mitgekommen?

Susanne Blasberg-Bense: Weil das Ballettzentrum schon immer einen Fuß in der Schule hatte und Schulprojekte durchgeführt werden, und das ist eine große Win-Win-Situation. Bis heute kommen Schülerinnen und Schüler, bei denen das Juniorballett war, ins Theater. Sie sind Ballettfans geworden. Und auf der anderen Seite ist es unheimlich wichtig, dass wir in den Schulen kulturelle Projekte haben.

Warum?

Blasberg-Bense: Ja, weil Schülerinnen und Schüler ganzheitlich gebildet werden sollen, und da ist die Kultur ein wichtiges Element. Wenn man sieht, dass diese jungen Menschen hier aus vielen, vielen Ländern der Welt kommen, dann passt das nach Nordrhein-Westfalen, denn auch unsere Schülerinnen und Schüler kommen aus sehr vielen Ländern und die gemeinsame Sprache Tanz, die sprechen alle. Das hat eine große Integrationskraft.

Können Sie diese positiven Auswirkungen irgendwie messen oder belegen?

Blasberg-Bense: Also, das ist in der Schule immer ganz schwierig. Wir bilden Menschen aus, um verantwortlich diese demokratische Gesellschaft mitzugestalten, und die langfristigen Effekte können Sie ja nicht ein halbes Jahr später messen. Aber das wird sich sicherlich in den nächsten Jahren zeigen, an den Besucherzahlen im Ballett, an dem Interesse an Kultur. Aber wir sehen auch kurzfristige Effekte da, wo die Projekte stattgefunden haben, und zwar daran, dass das Interesse weiter hoch ist.

Kaiser: Kulturelle Bildung ist ein Wert an sich. Es geht dabei nicht darum, dass bestimmte Inhalte vermittelt werden, die hinterher abfragbar sind. Sondern ich glaube, man gewinnt mit Hilfe der Kultur eine positive Einstellung zum Leben. Ästhetische Fragestellungen und Überlegungen können auch dazu führen, über sich selbst mehr zu erfahren und sich seiner selbst immer wieder neu zu vergewissern. Und das ist doch insbesondere wichtig für Menschen aus Elternhäusern, in denen Kultur bisher keinen hohen Stellenwert hatte. Das betrifft die eigene Haltung und genauso den Respekt vor anderen, das gehört zur demokratischen Kultur. Das halte ich für essenziell.

Blasberg-Bense: Genau. Wie lang eine Ausbildung dauert, welche Entbehrungen man auf sich nehmen muss – das ist ja für den durchschnittlichen deutschen Schüler erst mal überraschend: Da ist jemand, der ist mit 18 seit drei Jahren nicht mehr bei seiner Familie, probt hier zehn Stunden am Tag und hat anschließend vielleicht noch eine Aufführung. Ich glaube, dass da eine Reflexion in Gang kommt über die eigenen Zukunftspläne und dass man dadurch eine andere Wertschätzung für den Beruf des Tänzers hat.

Also auch ein Vorbild für ein anderes Lebensmodell, in dem es nicht um pragmatische Abwägung von Aufwand und Nutzen geht, sondern: Wie könnte mein Leben aussehen, wenn ich leidenschaftlich für etwas brenne?

Blasberg-Bense: Ja, genau.

Tobias Ehinger, Ballettmanager: Das ist ein sehr wichtiger Punkt für uns. Es ist so ein Trend heute, dass alles sehr schnell gehen muss. Beispiel Mark Zuckerberg: Die digitale Welt hat uns vorgemacht, wie man in wenigen Jahren unglaublich viel verdienen kann, und viele Jugendlichen sagen, sie möchten in möglichst wenigen Jahren Millionär werden. Für uns ist Haltung ein wichtiger Begriff. Einerseits natürlich die körperliche Haltung, aber auch die Frage, welche Haltung habe ich zu mir selbst, wie positioniere ich mich in der Kultur und Gemeinschaft, in der ich lebe. Wir empfinden das als unseren Auftrag, dass wir uns nicht im Theater verbarrikadieren, sondern wir sind öffentlich getragen und damit gefordert, das Potenzial auszuleben, auch für Menschen, die keinen natürlichen Zugang zur Kultur haben. Das hat nicht immer nur mit einer sozialen Herkunft zu tun, sondern auch mit einer regionalen: In Winterberg zum Beispiel ist der Weg zum nächsten Ballett sehr weit. Es ist uns wichtig, dass jeder mal mit Tanz in Berührung kommt, damit er dann reflektieren kann – und das meine ich mit Haltung –: Das lehne ich ab aus den und den Gründen oder das gibt mir etwas oder das fasziniert mich. Diese Auseinandersetzung ist wichtig, gerade in der Schule, dass man etwas Neues kennenlernt und dazu eine persönliche Haltung entwickelt. Jeder Schüler empfindet das anders und muss dann begründen, warum – das ist sehr interessant, auch für uns.

Frau Blasberg-Bense, erleben Sie solche Begegnungen mit?

Blasberg-Bense: Selten, weil ich seit elf Jahren nicht mehr in der Schule, sondern in der Schulaufsicht bin. Aber ich habe das konkret miterlebt, und ich war sehr beeindruckt davon, wie die Jungs, 14, 15, 16 Jahre alt, die ganz cool da ankamen, den Tänzern am Ende wirklich Respekt entgegengebracht haben. Das hat ja auch etwas mit Rollenbildern zu tun.

Die ja unter Tänzern anders funktionieren als bei vielen 15-Jährigen auf der Straße.

Blasberg-Bense: Ja, da eine Offenheit zu entwickeln für andere Ausdrucksmöglichkeiten, das ist ein Wert an sich. Das haben die Schulen auch erkannt. Es kommen auch vereinzelt Rückmeldungen von Eltern, die sehr positiv sind.

Ehinger: Ja, da gibt es einige Beispiele. Eine sehr persönliche Anekdote ist die eines autistischen Jungen in Arnsberg, dessen Mutter uns gesagt hat, er dass er keine Emotionen ausdrücken kann. Er nahm an unserem Tanzworkshop teil, und plötzlich fing er an zu reden, zu reden, zu reden. Auf eigene Initiative hin ist er mit seiner Mutter insgesamt noch elf Mal nach Dortmund gekommen, zu Backstageführungen, Proben und Vorstellungen, und er hat angefangen, über Gefühle zu sprechen. Klingt wie so eine Story, aber es war tatsächlich so. Er hatte einfach zum ersten Mal in seinem Leben die Berührung mit Tanz. Die Selbsterfahrung des Tanzens gab ihm plötzlich die Möglichkeit sich auszudrücken. Inzwischen tanzt er jetzt auch richtig. Genau das ist es, was wir wollen: Rausgehen, unser Potenzial zu den Leuten bringen. Genau wie im Schauspiel und den anderen Sparten. Das Juniorballett ist dafür ein Beispiel. Natürlich ist es immer in Zahlen schwer messbar, aber wir können zum Beispiel sagen: An jeder Schule, wo wir waren, sind auf eigene Initiative noch 50 bis 100 Schüler zusätzlich gekommen. Da haben sich Whatsapp-Gruppen gegründet, zum Teil auch mit unseren Tänzern, aus Sympathie oder wegen der gleichen Herkunft, das geht eigene Wege, außerhalb vom Marketing. Und auch für unsere Tänzer ist es sehr interessant, die sehen zum Teil zum ersten Mal eine deutsche Schule. Da bilden sich auch Freundschaften. Da funktioniert die gegenseitige Bereicherung ganz einfach.